Die Prussia-Sammlung im Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin

Wolgabulgarische Äxte aus Ostpreußen

Unter den Waffen aus der Prussia-Sammlung befindet sich die sehr seltene Form einer so genannten Doppelaxt . Sie stammt aus Fundkomplex 14 der großen Nekropole von Viehof, Kr. Labiau im östlichen Samland (heute Tjulenino, Russ. Föderation). Von diesem Gräberfeld haben sich in Berlin rund 1.200 Funde des 10. bis 13. Jahrhunderts erhalten. Der Komplex 14 kann als Grabausstattung eines berittenen Kriegers interpretiert werden, dem neben seiner Axt auch ein Schwert, ein Speer, zahlreiche Eisenmesser sowie Reste seines Streitrosses mit Reitausrüstung beigegeben war. Der Mann trug neben einem Halsring und einem Fingerring auch ein Hufeisenfibelpaar mit mohnkopfförmigen Enden, das die Grablege in das 11. Jahrhundert datiert.


(Abb. 1: Doppelaxt aus Fundkomplex 14 des Gräberfeldes von Viehof; s. auch Abb. 3,1)

An die Viehofer Axt ist ein weiteres Stück aus der Prussia-Sammlung anzuschließen, allerdings aus dem fundortlosen Bestand.


(Abb. 2: Doppelaxt, ehemaliges Ostpreußen, genauer Fundort unbekannt; s. auch Abb. 3,2)

In Skandinavien kennen wir diese Doppeläxte etwa aus Gotland oder der Nekropole des Handelsplatzes von Birka in Mittelschweden.


(Abb. 3: Doppeläxte aus dem Baltikum und Skandinavien :1 Viehof; 2 Ostpreußen; 3 Birka; 4 Gotland)

Dieser Axttyp ist eine eindeutige Fremdform im Ostseeraum: ihr Hauptverbreitungsgebiet befindet sich in Nordrussland und an der mittleren Wolga, der Ursprung der Axtform liegt im Reich der Wolgabulgaren, das vom 7. bis zum 13. Jahrhundert im Bereich der Flüsse Wolga und Kama einen wichtigen politischen Faktor des nordeurasischen Raumes und eine bedeutende Handelsmacht darstellte. Ähnliche Axtformen sind im Karpatenbecken bereits aus früh- und mittelawarischer Zeit bekannt. Durch den Austausch der Wolgabulgaren mit dem benachbarten Reich der Kiewer Rus` gelangten solche Äxte auch ins Baltikum und von dort nach Skandinavien.


(Abb. 4: Doppeläxte aus Nordrussland und dem Wolgagebiet)

Solche für das Baltikum und Skandinavien „exotischen“ Waffen waren vermutlich Abzeichen einer international agierenden Schicht von Kriegern und Händlern. Dafür sprechen die Axtfunde aus Gotland, einer wichtigen Drehscheibe im Ost-West-Handel, sowie die Belege aus dem schwedischen Handelszentrum von Birka, dessen materielle Kultur nicht nur bei der Bewaffnung, sondern auch bei exklusiven Trachtausstattungen Einflüsse aus dem wolgabulgarischen Bereich erkennen lässt.

Auch der Krieger mit der Doppelaxt aus Viehof gehörte ohne Zweifel zu einer privilegierten Schicht, da als Hauptwaffe ein Schwert führte, das dort nur in 4,9 % der Bestattungen auftritt, während Lanzenbewaffnung in 14,2 % der Gräber vorkommt, also fast dreimal so häufig. Interessant ist weiterhin, dass der zweite Axtbeleg aus Viehof, dessen genauer Fundkontext leider unbekannt ist, an seinem hinteren Bartende einen dreizipfligen Fortsatz aufweist. Dieses Merkmal ist vor allem an Äxten aus Gotland bekannt und verweist auf die internationalen Verbindungen mancher Angehörigen der prussischen Kriegerschicht.


(Abb. 5: Bartaxt aus Viehof)

(Norbert Goßler)

Auferstanden aus der "Totenstadt": Wikingerzeitliche Funde aus Linkuhnen, Kr. Niederung

Im Rahmen des DFG-Projektes widmet sich eine spezielle Untersuchung dem forschungsgeschichtlich bedeutsamen Fundplatz von Linkuhnen in der Memelniederung (heute Rževskoe, Russ. Föderation). Bis 1945 waren dort in verschiedenen Grabungskampagnen, an denen so bedeutende ostpreußische Archäologen wie Herbert Jankuhn, Carl Engel, Kurt Voigtmann und Wolfgang La Baume beteiligt waren, fast 500 Gräber der Römischen Kaiserzeit, der Völkerwanderungszeit sowie der Wikingerzeit entdeckt worden.


(Linkuhnen, Kr. Niederung: Grabungskampagne Herbert Jankuhn im Oktober 1928. Foto: Archiv MVF Berlin)

Die Nekropole gilt seit langem als wichtiges, chronologisches Bindeglied zwischen der mittleren und späten Eisenzeit im Westbaltikum und wurde möglicherweise auch nach dem 5./6. Jahrhundert kontinuierlich bis ins 11./12. Jahrhundert weiterbelegt.
Nach Angaben des Ausgräbers Carl Engel bestand das Gräberfeld aus vier, unterschiedlich tiefen Schichten oder „Stockwerken“, die er als zeitliche Abfolge in der Gräberfeldbelegung ansah. Vor allem die wikingerzeitlichen Bestattungen, unter denen sich anscheinend viele Doppelgräber von Frauen und Männern befinden, wiesen einen außergewöhnlichen Beigabenreichtum auf. Carl Engel verglich die Struktur der Nekropole mit den Katakomben des frühchristlichen Roms und sprach von der „Totenstadt von Linkuhnen“.


(Grab 25 des Gräberfeldes von Linkuhnen; Grabung 1929. Foto: Archiv MVF Berlin)

Schmuckausstattungen aus Hals-, Arm- und Fingerringen, Fibeln, Nadelschmuck und Kettengehängen stehen Waffeninventare mit mehreren Schwertern, Lanzenspitzen sowie Reitzubehör gegenüber. Unter den Schwertern befindet sich eine erstaunlich hohe Anzahl von Klingen mit ULFBERTH-Inschriften, dem „Markennamen“ einer rheinischen Waffenschmiede des 9./10. Jahrhunderts. Aufgrund der herausragenden Qualität dieser Waffen existierten zahlreiche zeitgenössische Plagiate dieser Klingen. In Linkuhnen lassen sich vermutlich sowohl Original und Fälschung nachweisen; sie können als Importe aus West- und Mitteleuropa gelten. Vor allem die zahlreichen Waffenfunde aus den Gräbern von Linkuhnen veranlassten die Archäologen vor 1945 dazu, ein starkes wikingisches Element unter der Bestattungsgemeinschaft von Linkuhnen zu vermuten.


(Waffenbeigaben im Gräberfeld von Linkuhnen. Nach C. Engel 1931)


(Kreuzförmige Scheibenfibeln aus Linkuhnen. Foto: C. Plamp)

Im Berliner Bestand der Prussia-Sammlung können bisher 158 Objekte dem Fundplatz Linkuhnen zugewiesen werden: über ein Drittel dieses Bestandes resultiert aus Fundreidentifizierungen, die durch die bisherige Arbeit des DFG-Projektes ermöglicht wurden.


(Tauschierter Schwertgriff aus Grab 53 von Linkuhnen. Nach La Baume 1941)


(Tauschierter Schwertgriff aus Grab 53 von Linkuhnen. Aufnahme nach 1929. Foto: MVF Berlin)


(Reidentifizierter Schwertgriff aus Grab 53, heutiger Zustand).

Ein in Arbeit befindlicher kommentierter Fundkatalog, der archäologische Objektinformationen, bisherige Literaturangaben und zahlreiche archivarische Quellen kombiniert, wird eine neue Grundlage für die chronologische und kulturhistorische Einordnung des Fundplatzes Linkuhnen liefern.

(Norbert Goßler)

Altfundbestände aus dem nördlichen Samland: das Beispiel Regehnen

Regehnen (heute Dubrowka, Russ. Föderation) stellt den südlichsten Punkt des Arbeitsgebietes in der Gegend um Rauschen dar und liegt etwa 8 km südlich der Ostseeküste, westlich der Eisenbahnlinie Königsberg-Neukuhren und ist eine kleine Ortschaft mit wenigen landwirtschaftlichen Höfen. Die Gründung des Ortes Regehnen lässt sich auf das Jahr 1387 zurückverfolgen. Bemerkenswert ist die lange Belegungszeit des Gräberfeldes, das (mit Überlieferungslücken) von der Jüngeren Bronzezeit bis in das Spätmittelalter genutzt wurde.


(Der Fundort Regehnen mit den Fundstellen I und II, Grabungen zwischen 1884 und 1938)

Unter der Ortsangabe Regehnen sind zwei Fundstellen zu verstehen, die sich südlich und westlich der eigentlichen Ortschaft befinden und etwa 1,5 km voneinander entfernt liegen. Dabei handelt es sich um zwei Gräberfelder (Regehnen I und II), die jeweils Funde der Bronze- und Eisenzeit, sowie der Römischen Kaiserzeit und des Mittelalters aufweisen (Regehnen II auch Völkerwanderungszeit), deren Ausdehnung und Beziehung zueinander jedoch unklar bleiben. Durch umfangreiche neuzeitliche Steinentnahmen sind die Grabhügel in erheblichem Maße abgebaut und zerstört worden. Beide Fundstellen wurden nur in kleineren Fundmeldungen oder Objektstudien erwähnt, die Funde und Befunde aber bis heute weder vorgelegt noch ausgewertet. Aus den in Berlin überlieferten Funden und den Beschreibungen in der Literatur und den Archivalien ergibt sich ein Ausblick auf etwa 77 ergrabene Bestattungen mit über 500 Beigaben. W. Gaerte bezeichnete das Gräberfeld von Regehnen in einem Zeitungsbericht vom 26. Juni 1936 als „eines der größten samländischen Gräberfelder mit einer durchgehenden Belegung von der Bronzezeit bis in das Mittelalter“. Dabei hatte er vermutlich die umfangreichen Zerstörungen und erkennbaren Verluste von Regehnen II vor Augen.

Die Fundmeldungen und Ausgrabungen in Regehnen umfassen einen Zeitraum von 1883 bis 1938 und lassen sich für beide Fundstellen meist deutlich unterscheiden. Die Grabungen führte zunächst die Prussia-Gesellschaft durch, später das Prussia-Museum bzw. das Landesamt für Vorgeschichte. Dazu kommen die Fundmeldungen von Einzelfunden durch verschiedene Privatpersonen. Die Untersuchungen konzentrierten sich zunächst auf die Fundstelle Regehnen I, für die sich Aktivitäten in den Jahren vor 1883, 1884-1887 und 1913 rekonstruieren lassen. Umfangreiche Ausgrabungen an der Fundstelle Regehnen II wurden in den Jahren 1936 und 1938 vorgenommen.


(Einzelfunde aus der Fundstelle Regehnen I, eingeliefert in das Prussia-Museum 1883. Foto: C. Plamp)

In der Prussia-Sammlung im Berliner-Museum für Vor- und Frühgeschichte existieren heute noch 86 Funde aus Regehnen. Die verfügbaren Archivinformationen deuten darauf hin, dass alle erhaltenen Objekte der Fundstelle Regehnen I zuzuordnen sind und im Zeitraum zwischen 1883 und den 1930er Jahren an das Prussia-Museum in Königsberg gelangt sind. Die Funde datieren überwiegend in die Römische Kaiserzeit (76 Stück), der geringere Teil lässt sich dem Mittelalter zuweisen (10 Stück). Von den bronzezeitlichen und eisenzeitlichen Objekten sind in Berlin keine Stücke überliefert und nur vereinzelt in der Literatur nachweisbar.


(Römische Münze - AE I [Hadrian?], Einzelfund aus Regehnen I vor 1883. PB 9, 1884, 191; S. Bolin, PB 26, 1926, 216 Nr. 50)

Regehnen stellt ein typisches Beispiel für die Überlieferungsproblematik der Prussia-Sammlung dar: es gilt den relativ spärlichen Niederschlag der Ausgrabungen in Regehnen in der archäologischen Literatur und die fragmentarische Überlieferung in den Ortsakten mit den unvollständig überlieferten Funden in Einklang zu bringen. Erst die Kombination der verfügbaren Quellen ermöglicht es, den Kontext der überlieferten Objekte zu rekonstruieren und ein aussagekräftiges Bild der archäologischen Situation in Regehnen entstehen zu lassen.


(Einzelfunde aus Regehnen I. Aufzeichnungen von H. Jankuhn, vermutlich Ende der 1920er Jahre)

Südlich der Ortschaft Regehnen (Regehnen I) finden sich Hinweise auf Hügelgräber der jüngeren Bronzezeit. Funde aus 12 Grabhügeln der Eisenzeit (1. vorchristliches Jahrtausend) und der römischen Kaiserzeit (Grab XIIc) wurden während der Grabung des Jahres 1884 geborgen. In diesem Hügelgräberfeld mit Brandbestattungen in Urnen und Steinsetzungen (Steinkammern und Steinpflaster) finden sich in der Römischen Kaiserzeit auch Hinweise auf Bestattungen mit Pferdeteilen. Aus diesem Teil stammen auch die erhaltenen mittelalterlichen Funde (Einzelfunde)


(Schildbuckel Grab XIIc, Regehnen I. Aufzeichnungen von H. Jankuhn, vermutlich Ende der 1920er Jahre)

Die Grabung im Jahre 1887 bringt weitere 22 Grabhügel (Durchmesser 3,20 – 7,00 m) mit mehrschichtigen Steinlagen und Einfassungen durch konzentrische Steinkreise. Auch wenn keine Funde dieser Kampagne erhalten sind, so dürften die Brandgräber anhand der Beschreibungen in die ältere römische Kaiserzeit zu datieren sein.


(Gräberfeldplan Regehnen I, Grabung 1887. Die Grabungsfläche schließt nördlich an die Grabung von 1884 an. PB 14, 1889 Taf. 6)

Im westlichen Teil von Regehnen (Regehnen II) sind die ältesten Bestattungen (Urnen in Hügelgrab) in die jüngere Bronzezeit/frühe Eisenzeit zu datieren, die Nachbestattungen in der Hügeldecke und am Rande des bronzezeitlichen Grabhügels gehören an das Ende der Latènezeit. Die Grabungen 1936 und 1938 erbrachten Skelettgräber sowie Brandgräber der älteren Kaiserzeit und Urnengräber und Brandschüttungsgräber der jüngeren Kaiserzeit, außerdem Brandgruben der Völkerwanderungszeit. Häufig treten Steinsetzungen als Pflaster oder als mehrlagige Steinpackungen auf. Mittelalterliche Funde werden im Grabungsbericht erwähnt, sind jedoch nicht überliefert und lassen sich keinem archäologischen Kontext zuweisen.
Ausgehend von den ausgegrabenen Flächen in Regehnen II finden sich die ältesten Gräber im Kern des Friedhofs, die jüngeren jeweils nach Norden und Westen anlagernd. Das frühgeschichtliche Gräberfeld schließt sich westlich an die bronzezeitlichen Grabhügel an und erstreckt sich nach Westen bis Tolklauken. Oberflächenbegehungen zeigen weitere Keramikfunde, das Gräberfeld konnte nur partiell ausgegraben werden.
Der Fundort Regehnen zeigt eine bemerkenswert lange, stufenübergreifende Nutzung der Nekropole, auch wenn sich die Belegung nicht für alle Zeitstufen lückenlos nachweisen lässt . In der weiteren Bearbeitung wird sich zeigen, ob sich die verschiedenen Bestattungssitten nicht nur in der räumlichen Verteilung, sondern auch chronologisch weiter differenzieren lassen.

(Christoph Jahn)

Altfundbestände aus dem nördlichen Samland: das Beispiel Kirtigehnen

Im Rahmen der exemplarischen Auswertung von Altfundbeständen der Prussia-Sammlung in Berlin wurden aus dem nördlichen Samland (heute Oblast Kaliningrad, Russ. Föderation) die Gräberfelder von Kirtigehnen, Rauschen-Kobjeiten, Pokirben, Pokalkstein und Regehnen ausgewählt. Teilweise handelt es sich um heute in der Forschung weitestgehend vergessene Fundkomplexe mit einstmals je 300-400 Bestattungen aus dem Zeitraum von der Römischen Kaiserzeit bis ins Mittelalter. Ziel dieser Studie ist es, die Grabfunde der genannten Nekropolen anhand archäologischer und archivarischer Quellen vorzulegen, wobei Daten zu den erhaltenen Objekten mit den Angaben der Literatur vor 1945 und archivarischen Informationen unterschiedlichster Herkunft in einem kommentierten Fundkatalog zusammenfließen.

Im Fall von Kirtigehnen wurde dabei zunächst die Beschriftung der mit Funden aus dem Gräberfeld erhaltenen Pappen ausgewertet, sie lässt vermutlich auf die ehemalige Zusammengehörigkeit zu Grabinventaren schließen.


(Pappe mit mittelalterlichen Funden aus Kirtigehnen. Foto: C. Plamp)

Da manche Fundinventare heute nur lückenhaft erhalten sind, wurden sie mit den archivalischen Aufzeichnungen von Felix Jakobson, Martha Schmiedehelm, Kurt Voigtmann und Rudolf Grenz verglichen und teilweise ergänzt.


(Kaiserzeitliche Fibel aus Kirtigehnen in der Zeichnung von Felix Jakobson und im erhaltenen Original)

In den Unterlagen der genannten Forscher sind darüber hinaus weitere Funde überliefert, die heute vollkommen verloren sind.


(Beschreibung eines Sprossenfibelpaares aus Kirtigehnen in der Fibelkartei von Kurt Voigtmann)

Der Fundplatz Kirtigehnen gehört zu den zahlreichen Gräberfeldern des Samlandes, die eine zweiphasige Belegung erkennen lassen, nämlich in der Römischen Kaiserzeit sowie der Völkerwanderungszeit einerseits, und im Mittelalter andererseits. Auffallend in der Benutzung des Gräberfeldes ist der zeitlicher Hiatus zwischen der späten Völkerwanderungszeit, also dem 6./7. Jh. n. Chr., und dem Zeitabschnitt vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Funde, die sich schwerpunktmäßig der Wikingerzeit (8.-10. Jh.) zuweisen lassen, fehlen bisher weitestgehend.
Innerhalb der archäologischen Forschung Ostpreußens vor dem 2. Weltkrieg, aber auch danach standen Kirtigehnen und seine Funde bisher im Schatten bekannterer Gräberfelder. In der „Urgeschichte Ostpreußens“ von W. Gaerte aus dem Jahr 1929 wird der Fundplatz nur einmal erwähnt; schon die archäologische Landesaufnahme von E. Hollack von 1908 kennt den Fundplatz, widmet ihm aber nur vier ganze Zeilen, während andere Fundorte deutlich länger abgehandelt werden.


(Sprossenfibelpaar des 6./7. Jahrhunderts aus Kirtigehnen. Nach Gaerte 1929)

Die Altfunde von Kirtigehnen und ihre Fundüberlieferung lassen zwei von einander räumlich getrennte Gräberfeldareale vermuten, beide liegen ungefähr 500 m vom historischen Ortskern entfernt


(Lageskizze der Notgrabung 1927 durch W. Gaerte mit mittelalterlichen Befunden aus dem Grenz-Archiv, Schleswig).

In der Berliner Prussia-Sammlung lassen sich heute noch 29 Fundkomplexe mit ganz unterschiedlichen Objektzahlen dem Fundplatz zuordnen, davon sind 20 Komplexe mit insgesamt 37 Objekten der Römischen Kaiserzeit bzw. Völkerwanderungszeit zuzuordnen, während dem Mittelalter neun Komplexe mit 39 Funden angehören. Aus der leider nur sehr eingeschränkten archivalischen Überlieferung zu Kirtigehnen im rekonstruierten Prussia-Sammlung am MVF sowie den Angaben der Literatur vor 1945 lässt sich jedoch erschließen, dass einstmals deutlich mehr Funde aus Kirtigehnen vorlagen, heute jedoch verschollen sind. Über die genaueren Umstände der Ausgrabungen vor 1945 sowie den dabei beobachteten Befunden berichten die archivalischen Quellen sehr wenig. Lediglich von einer Notgrabung aus dem Jahr 1927 erfahren wir, dass offenbar zehn Brandgrubengräber mit Steinabdeckung und jeweils zugehöriger Pferdebestattung aus dem 11.-13. Jahrhundert geborgen wurden.

(Norbert Goßler)

Die Region um Rauschen im nördlichen Samland

Die Gegend um Rauschen, Kr. Fischhausen (heute Swetlogorsk, Oblast Kaliningrad, Russ. Föderation) im nördlichen Samland ist Gegenstand einer regionalen Studie, die im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: zum einen versucht diese exemplarische Auswertung von Altfundbeständen ausgewählter Fundorte die Grabungsaktivitäten der Prussia-Gesellschaft und des Prussia-Museums in dieser Region zu rekonstruieren und mit den in Berlin erhalten Objekten zu vergleichen. Da es sich hierbei fast ausschließlich um Grabfunde handelt, soll zweitens versucht werden, die Bestattungssitten in einer eng umgrenzten Kleinregion nachzuzeichnen. Die Vorlage der bis heute weitestgehend unpublizierten Fundkomplexe kann somit drittens die aktuellen Baumaßnahmen und archäologischen Untersuchungen in der Gegend des heutigen Swetlogorsk ergänzen.


(Die behandelten Fundorte in der Region um Rauschen im nördlichen Samland)

Gegenstand der Untersuchung sind die Gräberfelder von Rauschen/Kobjeiten, Kirtigehnen, Pokirben, Pokalkstein und Regehnen an der nördlichen Ostseeküste des Samlands in einem Gebiet von 7 x 4 km Ausdehnung. Auch wenn keines der Gräberfelder vollständig ausgegraben oder dokumentiert worden ist, so ist doch jeweils von einer Belegung mit 300-400 Bestattungen auszugehen. Auffällig ist die lange Belegungsdauer der Gräberfelder. Für alle Fundorte lässt sich eine Nutzung in der Römischen Kaiserzeit und im Mittelalter nachweisen, teilweise auch für die Bronzezeit, die vorrömischen Eisenzeit und die Völkerwanderungszeit.
Die Bearbeitung dieser Fundorte zeigt die typische Problematik beim Umgang mit den Beständen der Prussia-Sammlung aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: keines der hier behandelten Gräberfelder wurde vor dem Krieg vorgelegt oder ausgewertet. Wenn überhaupt haben nur einzelne Objekte oder Fundensembles Eingang in die Literatur gefunden. Erst die kombinierte Auswertung des in Berlin erhaltenen Objektbestandes und der Aktenüberlieferung ermöglicht eine Rekonstruktion der Grabinventare und der Bestattungsweise. Somit lässt sich für die meisten Fundorte eine „Verlustliste“ erarbeiten, die verdeutlicht, wie groß die Diskrepanz zwischen der Menge der ausgegrabenen Stücke und den heute in Berlin erhalten Objekten ist. Betrachtet man z. B. die unveröffentlichten Grabungsbrichte aus dem Gräberfeld von Rauschen/Kobjeiten, so wird ersichtlich, dass bis zum Jahre 1930 dort mindestens 399 Gräber geborgen worden sind, teilweise mit umfangreichen Grabbeigaben (zahlreiche Pferdebestattungen mit Reitzubehör).


(Die Grabungen des Flachgräberfeldes an der Straße Rauschen-Kobjeiten. Im nördlichen Teil befinden sich die Gräber der Frühen und Späten Völkerwanderunszeit = Stufen D und E, im südlichen Teil die Bestattungen der Frühen und Späten Römischen Kaiserzeit = C und B, teilweise überlagert von den mittelalterlichen Gräbern = F-J)

Der ursprüngliche archäologische Objektbestand aus dem Gräberfeld von Rauschen/Kobjeiten dürfte in einer Größenordnung von ca. 2.000 Stück gelegen haben. Dem steht heute ein erhaltenes Objekt im Berliner Bestand der Prussia-Sammlung gegenüber.


(Lanzenspitze des 11.-12. Jh. aus dem Gräberfeld von Rauschen-Kobjeiten, Einzelfund. Zeichnung: C. Hergheligiu)

Ungeachtet dieser Verluste lässt sich mit Hilfe der Ortsakten ein aussagekräftiges Bild von Umfang, Inhalt und Bedeutung des Gräberfeldes von Rauschen/Kobjeiten zeichnen. So sind detaillierte Beschreibungen von etwa 250 mittelalterlichen und kaiserzeitlichen Gräbern aus dem Südteil des Gräberfeldes erhalten.


(Rekonstruierter Gräberfeldplan aus dem Südteil des Gräberfeldes von Rauschen-Kobjeiten mit Gräbern der Römischen Kaiserzeit und des Mittelalters)

Berücksichtigt man alle behandelten Gräberfelder in dem räumlich begrenzten Untersuchungsgebiet, so wird die außerordentliche Funddichte kaiserzeitlicher und mittelalterlicher Gräberfelder im Samland deutlich.

(Christoph Jahn)

Mittelalterliche Prussia-Objekte online! (Teil 2)

Der mittelalterliche Objektbestand der Prussia-Sammlung am MVF ist nun erstmals vollständig abrufbar. Unter www.smb-digital.de (Sammlungen/Museum für Vor- und Frühgeschichte/Prussia-Sammlung) finden sich 9080 Objekte mit Abbildung und den grundlegenden archäologischen Informationen (4920 Objekte mit bekanntem Fundort und 4160 Objekte ohne bekannten Fundort = Pr.-Nummern). Der Bestand lässt sich im Suchfeld oder in der erweiterten Suche nach Objektgruppe, Fundort o.ä. filtern.
Die mittelalterlichen Funde der ehem. Prussia-Sammlung im Bestand des MVF Berlin wurden somit erstmals systematisch wissenschaftlich erschlossen und stehen nun der internationalen archäologischen Forschung zur Verfügung.



(Christoph Jahn)

Der ferne Glanz: Tauschierarbeiten in der Prussia-Sammlung

Die Prussia-Sammlung im MVF enthält nur wenige Fundstücke, an denen sich die sog. Verzierungstechnik der Tauschierung beobachten lässt. Darunter versteht man die Fertigkeit, in metallene Oberflächen (meist Eisen) Ornamente als Vertiefungen einzuarbeiten und in diese Vertiefungen Einlagen aus Bunt- oder Edelmetall einzubringen. Der Kontrast zwischen dunklerem Trägermaterial und helleren Einlagen - etwa aus Silber - bewirkt so eine reizvolle Oberflächengestaltung und verleiht den Objekten einen besonderen Glanz.


(Wiskiauten, Kr. Fischhausen)

Während des Frühmittelalters war diese Verzierungstechnik sowohl im Baltikum als auch in Skandinavien sehr beliebt: Beispiele bilden wertvolle Waffen wie ein Schwert aus der wikingerzeitlichen Nekropole in Wiskiauten, Kr. Fischhausen und prächtiges Pferdegeschirr aus dem Friedhof des 10.-12. Jahrhundert von Trentitten, Kr. Fischhausen.




(Trentitten, Kr. Fischhausen)

Selbst scheinbar einfache Gebrauchsgegenstände wie Schlüssel wurden manchmal mit Tauschierungen verziert, wie Funde aus dem Gräberfeld des 10.-12. Jahrhunderts in Pollwitten, Kr. Fischhausen lehren.


(Pollwitten, Kr. Fischhausen)

Auch im Spätmittelalter wurde die Technik noch angewandt: ein tauschierter Gürtelbeschlag aus dem ordenszeitlichen Gräberfeld von Gerdauen zeigt die Reste einer aufwändigen Ornamentik.


(Gerdauen - Schloss, Kr. Gerdauen)

Unter dem mittelalterlichem Objektbestand der Prussia-Sammlung, die heute noch einem Fundort zugewiesen werden können, sind tauschierte Objekte allerdings insgesamt unterrepräsentiert, sowohl im Hinblick auf die bis 1945 bekannten Funde aus Ostpreußen als auch unter Berücksichtigung der baltischen Neufunde seit den 1950er Jahren. Von den zurzeit 4922 zuweisbaren mittelalterlichen Objekten lässt lediglich etwa 1 % Reste von Tauschierungen erkennen. Unter dem Schicksal der Königsberger Prussia-Sammlung im 2. Weltkrieg und in der Nachkriegszeit mit mehrfachen Evakuierungen, teilweiser Beraubung und unsachgemäßer Lagerung haben gerade die tauschierten Eisenobjekte besonders schwer gelitten. Viele der Metalleinlagen sind offenbar verloren gegangen bzw. durch die Korrosion zerstört oder unkenntlich gemacht worden.

Zwei Lanzenspitzen des 11./12. Jahrhunderts aus den samländischen Nekropolen von Dollkeim und Ekritten besaßen nach Ausweis ihrer vor 1945 veröffentlichten Abbildungen einstmals aufwändig tauschierte Tüllen, ihr heutiger Zustand lässt den Originalzustand leider nur noch erahnen.


(Dollkeim, Kr. Fischhausen, Zustand vor 1945 und heute)


(Ekritten, Kr. Fischhausen, Zustand vor 1945 und heute)

Tauschierungsreste zeigt auch ein beschädigter Steigbügel des 10. Jahrhunderts aus Pollwitten, ursprünglich trug er sicher eine flächige Streifentauschierung aus Kupfer oder Messing.


(Pollwitten, Kr. Fischhausen)

(Norbert Goßler)

Mittelalterliche Prussia-Objekte online! (Teil 1)

Die Objektinformationen zu den mittelalterlichen Objekten der Prussia-Sammlung sind ab sofort unter www.smb-digital.de (Museum für Vor- und Frühgeschichte/Prussia-Sammlung) online abrufbar. Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes sind hier über 4900 mittelalterliche Objekte aus der ehem. Prussia-Sammlung recherchierbar, die sich noch einem archäologischen Fundort zuweisen lassen.



(Christoph Jahn)

Wieder gefunden: ein Helmfragment aus Ekritten

Seit Januar 2013 läuft die zweite Phase der Objekterfassung im DFG-Projekt „Das Baltikum im 9. bis 15. Jahrhundert n. Chr.“: nachdem zunächst die Bestände mit noch bekannten Fundorten aufgenommen wurden, stehen nun die zahlreichen Objekte ohne Fundortzuweisung (sog. Pr-Nummern) im Mittelpunkt der aktuellen Erfassung.
Ziel der Arbeit ist es unter anderem, den ursprünglichen Fundzusammenhang möglichst vieler Objekte wiederherzustellen. Dabei helfen z. B. Fotos oder Zeichnungen der Altfunde in der archäologischen Literatur vor 1945. Auf diese Weise gelang auch die spektakuläre Reidentifikation eines der wenigen mittelalterlichen Helmfunde im Baltikum.


(Ekritten, Kr. Fischhausen - Helmzustand 1939. La Baume, Nachrichtenbl. Dt. Vorzeit, 15, 11/12, 1939 Taf. 79).

Im samländischen Ekritten war bei Grabungen im Jahr 1939 ein reich ausgestattetes Kriegergrab des 11. Jahrhunderts aufgedeckt worden, das unter anderem mehrere silbertauschierte Lanzenspitzen, Reitzubehör und einen kegelförmigen Helm enthielt, der ursprünglich vermutlich sogar einen Helmbusch besaß. Die Helmkalotte bestand nach Wolfgang La Baume aus vier trapezförmigen, mit Bronzeblech verkleideten Eisenplatten, die an ihren Längskanten überlappend miteinander vernietet und durch ein schmales, mit Buckelchen besetztes Bronzeband verziert waren.


(Heutiger Zustand der Helmfragmente von Ekritten, Kr. Fischhausen - erhaltene Höhe: 22 cm).

Unter den zahlreichen fundortlosen Fragmenten des Berliner Prussia-Magazins fand sich nun ein trapezförmiges Bronzeblech mit ankorrodiertem Eisen, Nieten und dem Rest eines ehemals gebuckelten Saumes (im Bild oberes Fragment). Der Vergleich mit der 1940 erstellten Rekonstruktion des Helmes aus Ekritten zeigt, dass es sich um ein Segment der verloren geglaubten Helmkalotte handeln muss. Eine alternative Deutung als Fragment einer romanischen Bronzeschale ist aufgrund der Form und der anhaftenden Eisenreste unwahrscheinlich. Einige Wochen später tauchte an einer anderen Stelle der Prussia-Sammlung ein weiteres Blechstück auf (im Bild unteres Fragment), das ohne Weiteres an das erste Helmfragment anzupassen ist. Auf diese Weise lässt sich nun ein fast vollständiges Helmsegment rekonstruieren. Hier zeigt sich erneut, wie wichtig die systematische Bearbeitung der Prussia-Sammlung ist, um verloren geglaubte Objekte für die archäologische Forschung wiederzugewinnen.


(Rekonstruktion des Helms von Ekritten, Kr. Fischhausen).

Die vorliegende Helmform ist nur zweimal in Ostpreußen belegt: neben Ekritten ist vor allem ein heute verschollener Fund aus der Nekropole Groß Friedrichsberg bei Königsberg zu nennen.


(Helm aus Groß Friedrichsberg, Gaerte 1929, 339 Abb. 273)

Er zeigt einen sehr ähnlichen Aufbau und war ursprünglich sogar vergoldet. Ähnliche Helmformen sind auch aus Litauen bekannt. Die Vorbilder dieser Helme weisen in den russischen Bereich und zeugen vom großen Einfluss des Reiches der Kiewer Rus’ auf die Bewaffnung im Baltikum und bei den Westslawen.

(Norbert Goßler)

Prussischer Kopfschmuck der Ordenszeit: Diademe aus Bronzeblech

Die Reidentifikation eines flachen Bronzebleches mit Mittelrippe und Buckelpunzen als Bestandteil eines Diadems aus der ordenszeitlichen Nekropole von Gerdauen lenkt die Aufmerksamkeit auf einen besonderen Kopfschmuck bei den einheimischen Prussen im 14./15. Jahrhundert.
Das 16 cm lange und 3 cm breite Fragment, das sich unter dem fundortlosen Bestand der sog. Pr-Nummern befand, passt haargenau an ein Bronzeblech mit eingehängtem Ring aus der Nekropole in Gerdauen: das zugehörige andere Ende des Diadems hat sich nicht erhalten, bestand aber wohl nach ähnlichen Grabfunden aus Gerdauen aus einem volutenartig aufgerolltem, breitem Abschluss, der in den Ring eingehängt wurde.


(Diadem aus Gerdauen, Kr. Gerdauen mit zwei aneinander passenden Fragmenten).

Eine weitere Verschlussvariante solcher Diademe zeigt ein Objekt aus der gleichzeitigen Nekropole von Unterplehnen im Kreis Rastenburg, deren Funde sich ebenfalls zum Teil in der Berliner Prussia-Sammlung erhalten haben: die Diademenden laufen hier in Haken aus, die um 90-Grad gegeneinander versetzt angebracht sind und so bequem miteinander verhakt werden können (Zeichnung Diadem Unterplehnen).
Die Grabbefunde aus Unterplehnen – sowohl aus den Grabungen vor 1945, als auch nach dem 2. Weltkrieg – erlauben die Ansprache der Bronzebleche als auf der Stirn getragene Diademe. An einigen Diademfragmenten aus Gerdauen haben sich auf der Innenseite Gewebereste erhalten, die von einer textilen Kopfbedeckung der Bestatteten zeugen könnten. Zudem lässt sich sowohl an den Funden aus Gerdauen als auch Unterplehnen beobachten, dass die dünnen Bleche oft mehrfache Reparaturen aufweisen. Sie wurden also nicht erst für die Grabausstattung angefertigt, sondern waren ein geschätzter, häufig getragener Kopfschmuck der prussischen Tracht.


(Diadem aus Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Zeichnung: C. Hergheligiu)

Bis zum 12./13. Jahrhundert wurde bei den baltischen Stämmen Kopfschmuck in Form von Kolliers aus mehrteiligen Strängen oder auf Leder bzw. Textil befestigten kleinteiligem Bronzeschmuck getragen. Die blechartigen Diademe des 14. und 15. Jahrhunderts erinnern mit ihren unterschiedlichen Hakenenden und ihrem flachem Querschnitt dagegen eher an die flachen, zungenartigen Enden litauischer Halsringformen des 14./15. Jahrhunderts.

(Norbert Goßler)

Prussische Reiterkrieger und ihre Ausrüstung: Steigbügel in der Prussia-Sammlung

Steigbügel dienten den schwer bewaffneten Reiterkriegern des Mittelalters vor allem als wichtige Aufsteighilfe. Darüber hinaus verliehen sie dem Reiter – insbesondere beim Kampf zu Pferde – zusätzlichen Halt nach den Seiten.


(Grabfund aus Groß Friedrichsberg, Kr. Königsberg)

Im mittelalterlichen Bestand der Prussia-Sammlung bilden Steigbügel aus Eisen die größte Einzelfundgruppe. Von den rund 4900 Funden, die sich heute noch Fundorten zuweisen lassen, entfallen über 11 % auf die Gruppe der Steigbügel, ihr Anteil an der Fundgattung des Reitzubehörs umfasst sogar 46 %.


(Grabfund, wahrscheinlich aus Schulstein, Kr. Königsberg)

In der Regel handelt es sich bei den Steigbügeln um Grabbeigaben; die Dominanz der Fundgruppe unterstreicht die große Bedeutung, die die Selbstdarstellung der Verstorbenen als berittene Krieger für die prussische Gesellschaft bis ins 13. Jahrhundert besaß. Teilweise stammen aus einer Grablege sogar mehrere Steigbügelpaare: möglicherweise wurde so der Besitz mehrerer Pferde symbolisiert. Handelt es sich um Funde aus großflächigeren Verbrennungsstellen, so genannten Aschenplätzen, könnte es sich allerdings auch um die aufeinander folgenden Grablegen mehrerer Reiterkrieger handeln.


(Grabfund aus Landskron, Kr. Friedland)

Die Steigbügelfunde der Prussia-Sammlung werden zurzeit umfassend ausgewertet. Ziel der Untersuchung ist ein Vergleich der mittelalterlichen Steigbügel aus dem ehemaligen Ostpreußen mit dem west-, mittel- und nordeuropäischen Fundmaterial. Gerade die Frage nach dem frühesten Auftreten von Steigbügeln im südwestlichen Baltikum könnte auch neue Beiträge zur prussischen Gräberfeldchronologie erbringen.


(Grabfund aus Nastrehnen, Kr. Fischhausen)

Literatur:

N. Goßler, Die mittelalterlichen Steigbügel aus dem Berliner Bestand der Prussia-Sammlung (ehemals Königsberg/Ostpreußen) – Studien zu Typologie, Chronologie und Kulturgeschichte. Acta Praehist. et Arch. 45, 2013, 109-215.

(Norbert Goßler)

Hinter Schloss und Riegel: die Objektgruppe Schloss und Schlüssel

Unter den Grabfunden des 9. bis 12. Jahrhunderts, die einen Hauptteil des mittelalterlichen Bestandes der Prussia-Sammlung bilden, finden sich vereinzelt auch Reste von Schlüsseln und Schlössern. Sie waren als Beigaben mit in die Gräber gekommen.


(Viehhof, Kr. Labiau, Fundkomplex 108/109, 9.-12. Jh.)


(Popelken, Kr. Wehlau, Gräberfeld, 9.-12. Jh.)

Meist handelt es sich um zylindrische Vorhängeschlösser mit einem sich selbsttätig schließendem Verschlussteil, das in der Regel nicht erhalten ist. Zum Öffnen des Verschlussmechanismus wurde ein Schlüssel mit rundem Bart in eine Öffnung am Ende des Schließzylinders eingeführt.


(Ramutten-Jahn, Kr. Memel, Streufund, 9.-12. Jh.)

Schloss wie Schlüssel weisen oft Verzierungen auf, etwa in Form von Einlegearbeiten aus Buntmetalldrähten.


(Polwitten, Kr. Fischhausen, Gräberfeld, 9.-12. Jh.)

Die Schlösser gehörten möglicherweise zu auf diese Weise verschließbaren Kästchen aus Holz, die sich nicht erhalten haben, vor allem wenn es sich um Beigaben in Brandbestattungen handelt. In den Kästchen konnten ihre Besitzer oder Besitzerinnen wertvolle Gegenstände vor dem Zugriff Dritter sicher verwahren. Die Beigabe von Schlössern und Schlüsseln könnte ihre Ursache aber auch in speziellen Jenseitsvorstellungen haben, etwa als Maßnahme, Verstorbene sicher an das Grab zu bannen.
Neben diesen hochmittelalterlichen Grabfunden liegt mit dem spätmittelalterlichen Vorhängeschloss von der Befestigung in Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Rówina Dólna, Woiw. Warmińsko-Mazurskie, Polen) auch ein Zeugnis für die Sachkultur der Deutschordenszeit vor. Es war mit einem Spreizfedermechanismus versehen und verschloss in der Burganlage mutmaßlich eine Truhe zur Aufbewahrung von wertvollem Besitz.


(Unterplehnen, Kr. Rstenburg, Siedlungsfund Burgwall, 13./14. Jh.)

(Norbert Goßler)

Eine besondere Fundgattung: Glasperlen

Eine kleine, aber feine Fundgruppe innerhalb des mittelalterlichen Bestandes der Prussia-Sammlung bilden die Glasperlen. Sie stellen oft Meisterwerke der frühgeschichtlichen Glaserzeugung dar.


(Linkuhnen, Kr. Niederung, bei Grab 204 l, Mitte 10. Jh.)

Meist liegen sie nur als Einzelfunde vor, bildeten aber ursprünglich als umfangreiche Perlenketten prächtige und farbenreiche Schmuckensembles der Frauentracht.


(Gerdauen, Kr. Gerdauen, Grab 40, 13./14. Jh.)

Aufgrund der zahlreichen Kombinationen unterschiedlicher Perlentypen lassen sich Glasperlen besser als andere Objektgruppen für eine genauere zeitliche Einordnung der Funde verwenden.
Glasperlen aus dem großen Gräberfeld von Ramutten-Jahn, Kr. Memel (Melašiai, Litauen) weisen etwa darauf hin, dass die Belegung des Friedhofes wahrscheinlich schon am Ende des 8. Jahrhunderts nach Chr. einsetzt.
Perlen wurden sowohl lokal hergestellt, als auch als Güter des Fernhandels von weither ins Baltikum importiert. Aus den Brand- und Körpergräbern in Ramutten-Jahn liegen so unter anderem Glassperlen byzantinischer (Grab 91) und orientalischer Herkunft (Grab 21) vor. Sie werfen ein interessantes Schlaglicht auf die kulturellen Einflüsse, denen das Baltikum während der späten Eisenzeit ausgesetzt war.


(Ramutten-Jahn, Kr. Memel, Grab 91, um 1000)


(Ramutten-Jahn, Grab 21, um 1000, v. a. gelbe u. blaue Perlen)

(Norbert Goßler)

Reidentifizierte Objekte aus Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Rówina Dólna, Polen)

Ein großer Teil der Prussia-Sammlung im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte lässt sich aufgrund der kriegsbedingten Verlagerung weder einem Fundort, noch einer ehem. Inventar-Nummer und somit auch keinem archäologischen Kontext zuweisen. Diese „verwaisten“ Funde sind übergangsweise mit sog. „Pr-Nummern“ versehen worden. Über 7.000 dieser Nummern sind für fundortlose Objekte vergeben worden. Neben zahlreichen neolithischen Steinäxten handelt es sich in der Mehrheit um kaiserzeitliche, völkerwanderungszeitliche und mittelalterliche Funde.



In der Sammlung sind diese Objekte nach typologischen Kriterien vorsortiert worden. Die Frage ist nun, wie man für diese Stücke Herkunft und auch archäologischen Kontext rekonstruieren kann. Eine Möglichkeit besteht darin, diese Problematik vom Bestand der Ortsakten her anzugehen. Exemplarisch ist dies für das Gräberfeld von Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Rówina Dólna, Woiw. Warmińsko-Mazurskie, Polen) versucht worden. Für diesen Fundort liegt eine umfangreiche Ortsakte, sowie zahlreiche erhaltene Fotografien vor.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Grab 28, Inv.-Nr. VII,332,12190).


(Fotorückseite mit Fundortangabe, Grabnummer, Grabungsjahr und Inventarnummer).

Mit diesen Fotografien lässt sich nun die Suche nach bestimmten Objektgruppen auf eine überschaubare Menge von Fundkisten gezielt eingrenzen. In diesem Fall ist die Perlenkette im rechten unteren Bildrand identisch mit der Perlenkette mit der Pr-Nummer 2680.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Grab 28, Pr 2680 = Inv.-Nr. VII,332,12190).

Von den 104 aus Unterplehnen erhaltenen Objekten konnten auf diese Weise über 30 Objekte mit „Pr-Nummern“ reidentifiziert und dem Fundort Unterplehnen zugeordnet werden. Besonders wertvoll ist es, dass sich dabei meist auch der jeweilige Grabkontext erkennen lässt, sofern diese Informationen auf den Fotos vermerkt sind. Durch die Kombination von Angaben aus Ortsakten, Fotos, Fundzetteln und der Voigtmann-Kartei lässt sich der Umfang der Gräberfeldes von Unterplehen und auch die Grabinventare der ca. 250 Bestattungen Stück für Stück rekonstruieren.
Es werden aber auch die Schäden deutlich, die die einzelnen Objekte durch die Verlagerung erfahren haben.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 55).

Ortband einer Dolchscheide, der Dolch fehlt.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 55).

Gürtelschnalle mit Lederresten, der auf dem Foto sichtbare Beschlag fehlt.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 55).


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 26).

Auch bei diesem Gürtelbeschlag sind zwei Niete nicht mehr erhalten.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 26).


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Streufund).


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Streufund).

Eine weiterer Ausgangspunkt für Reidentifizierungen sind die erhaltenen Karteikarten der sog. Voigtmann-Kartei. Hier sind die Objekte häufig auf Fotos oder Handzeichnungen zu erkennen. Auch hier erhalten die Fundstücke nicht nur ihren Fundort, sondern auch ihren archäologischen Fundkontext zurück.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Voigtmann 1936, Grab XXIX, Fund 36).

Literatur:

N. Goßler/Ch. Jahn, Die archäologischen Untersuchungen am spätmittelalterlichen Gräberfeld und am Burgwall von Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Równina Dolna, pow. Kętrzyński) zwischen 1827 und 1940 – Ein Rekonstruktionsversuch anhand der Materialien im Berliner Bestand der Prussia-Sammlung (ehem. Königsberg/Ostpreußen). Acta Praehist. et Arch. 45, 2013, 217-278.

N. Goßler/Ch. Jahn, Zur materiellen Kultur der Prussen während der Ordenszeit im 14./15. Jahrhundert – Das archäologische Fallbeispiel Burg und Gräberfeld Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Równina Dolna, pow. Kętrzyński). Preussenland N.F. 4, 2013, 23–55.

(Christoph Jahn)

Voigtmann-Kartei

Auf der Suche nach Informationen zu einzelnen Objekten aus der Prussia-Sammlung bietet sich in einigen Fällen die sog. „Voigtmann-Kartei“ als Einstieg an. Diese wurde von dem Gymnasiallehrer und späteren Direktor des städtischen Museums Marienburg Kurt Voigtmann (5.6.1881-18.9.1942) im Zuge der Vorarbeiten für seine Dissertation über die damals sog. „masurgermanische Kultur“ in den 1930er Jahren in Königsberg angelegt. Als Teil des Nachlasses von Kurt Voigtmann gelangte sie 1942 in das Fundarchiv des Prussia-Museums/Landesmuseums für Vorgeschichte und 1990 an das Archiv des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin.

Die nach Fundorten sortierte Kartei enthält Informationen zu Objekten aus dem Bestand des Prussia-Museums, zumeist aus Gräberfeldern. Von Bedeutung sind die Angaben zum Fundkontext, sowie Fundzeichnungen und Fotografien. Mit Hilfe der „Voigtmann-Kartei“ lassen sich in einigen Fällen die Zusammensetzung von Grabinventaren, sowie die Lage der Einzelobjekt im Grabkontext rekonstruieren. Erhalten ist heute ein Bestand von Karteikarten in einem Umfang von ca. 1,5 laufenden Metern.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung 1936)

(Christoph Jahn)

Inventarisierung Gräberfeld Ramutten-Jahn, Kr. Memel

Ein besonders großer und gut erhaltener Komplex ist das mittelalterliche Gräberfeld von Ramutten-Jahn, Kr. Memel (Melašiai, Litauen). Ausgrabungen fanden dort zwischen 1911 und 1913 statt und erbrachten rund 250 Gräber, die etwa einen Zeitraum vom 9. bis zum 11./12 Jahrhundert umfassen. Ein großer Teil der archäologischen Objekte ist glücklicherweise auf den alten Pappen überliefert worden, so dass sich in vielen Fällen die zusammengehörigen Grabkomplexe rekonstruieren lassen. Gleichzeitig ist dieses Gräberfeld ein Beispiel für die großen Verluste, die bei den alten Ortsakten zu verzeichnen sind: von der ursprünglichen Ortsakte sind heute nicht mehr als 6 Blatt erhalten.


(Foto: C. Plamp)

Zu Zeiten des Prussia-Museums ist dieser Fundort aus unbekannten Gründen nicht inventarisiert worden - ein Arbeitsschritt der 100 Jahre später nachgeholt wird. Für eine spätere wissenschaftliche Auswertung ist es besonders wichtig, die Zusammengehörigkeit von Grabinventaren anhand der alten Pappen zu rekonstruieren. Diese Grabausstattungen werden durch die neuen Inventarnummern („Pr-Nummern) dargestellt.

(Christoph Jahn)

Anhänger aus Warengen, Kr. Fischhausen

Das Logo der Prussia-Sammlung stellt einen bronzenen Anhänger mit Vergoldung dar und stammt aus einer völkerwanderungszeitlichen Brandbestattung des Gräberfeldes von Warengen, Kr. Fischhausen. Dieses wurde 1879 von Dr. med A. Hennig gegraben und erbrachte kaiserzeitliche und völkerwanderungszeitliche Bestattungen. Unser Anhänger hat eine Länge von 5,3 cm und wurde zusammen mit einem silbernen Halsring, einer Bronzemünze, 3 Fibeln, 2 bronzenen Anhängern, einem bronzenen Spiralfingerring und drei Spinnwirteln in einer Urne gefunden.


(Foto: C. Plamp)

Das Stück befindet sich heute in der Dauerausstellung des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel.


(aus: Katalog des Prussia-Museums Teil II (Königsberg 1897), 10 Abb. 20.)

(Christoph Jahn)

Literatur:
N. Åberg, Ostpreussen in der Völkerwanderungszeit (Uppsala, Leipzig 1919), 103 Abb. 147.

Eisenobjekte

Besonders die Eisenobjekte der Prussia-Sammlung haben durch die Lagerungsbedingungen der letzten Jahrzehnte schwere Schäden erfahren. Durch Korrosion und Erschütterung sind zahlreiche Objekte sehr fragil geworden, so dass eine besondere konservatorische Behandlung nötig wurde. Größere Eisenobjekte wie Schwerter befinden sich in einem klimatisierten Eisenmagazin, die kleineren Fundstücke wurden „eingeskinnt“.



Dabei werden die Objekte auf einem Trägermaterial mit einer Kunststofffolie überzogen und „vakuumverpackt“. Auf diese Weise konnten die Artefakte stabilisiert und vor weiterem Verfall geschützt werden. Diese Verpackung ist reversibel, so dass die Objekte für eine weitere Bearbeitung oder Auswertung wieder entnommen werden können.



(Christoph Jahn)

Literatur:
H. Born, Skinverpackung archäologischer Eisenfunde. Arch. Nachrbl. 2, 1997, 288-293.

DFG-Projekt "Das Baltikum im 9. bis 15. Jahrhundert n. Chr."

Im Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin ist die Prussia-Sammlung in einem eigenen Magazinbereich untergebracht.



Seit 1990 ist das Fundarchiv und die archäologische Sammlung in mühevoller Kleinarbeit wieder für eine wissenschaftliche Bearbeitung nutzbar gemacht worden. Durch die kriegsbedingte Verlagerung sind zahlreiche Informationen und Fundzusammenhänge verloren gegangen. Nur für einen Teil der mittelalterliche Objekte lassen sich Fundorte zuweisen.



Diesen Fundkomplexen wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In Kombination mit den Archivmaterialien sind diese Komplexe für eine regionale, typologische und chronologische Auswertung am wertvollsten.



Schwieriger ist die Situation bei den sog. „Pr-Nummern“. Bei diesen ist z Zt. keine Fundortzuweisung möglich ist. Ziel ist eine mögliche Reidentifizierung der Objekte und somit eine Zuweisung zu einem Fundort oder Grabungskontext.



Wie diese Kollektion von Hufeisenfibeln sind die Objekte mit „Pr-Nummern“ in der Prussia-Sammlung nach typologischen Gesichtspunkten vorsortiert worden - der Bezug zum ursprünglichen Fundort ist jedoch verloren gegangen.

(Christoph Jahn)