Die Prussia-Sammlung im Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin

Altfundbestände aus dem nördlichen Samland: das Beispiel Kirtigehnen

Im Rahmen der exemplarischen Auswertung von Altfundbeständen der Prussia-Sammlung in Berlin wurden aus dem nördlichen Samland (heute Oblast Kaliningrad, Russ. Föderation) die Gräberfelder von Kirtigehnen, Rauschen-Kobjeiten, Pokirben, Pokalkstein und Regehnen ausgewählt. Teilweise handelt es sich um heute in der Forschung weitestgehend vergessene Fundkomplexe mit einstmals je 300-400 Bestattungen aus dem Zeitraum von der Römischen Kaiserzeit bis ins Mittelalter. Ziel dieser Studie ist es, die Grabfunde der genannten Nekropolen anhand archäologischer und archivarischer Quellen vorzulegen, wobei Daten zu den erhaltenen Objekten mit den Angaben der Literatur vor 1945 und archivarischen Informationen unterschiedlichster Herkunft in einem kommentierten Fundkatalog zusammenfließen.

Im Fall von Kirtigehnen wurde dabei zunächst die Beschriftung der mit Funden aus dem Gräberfeld erhaltenen Pappen ausgewertet, sie lässt vermutlich auf die ehemalige Zusammengehörigkeit zu Grabinventaren schließen.


(Pappe mit mittelalterlichen Funden aus Kirtigehnen. Foto: C. Plamp)

Da manche Fundinventare heute nur lückenhaft erhalten sind, wurden sie mit den archivalischen Aufzeichnungen von Felix Jakobson, Martha Schmiedehelm, Kurt Voigtmann und Rudolf Grenz verglichen und teilweise ergänzt.


(Kaiserzeitliche Fibel aus Kirtigehnen in der Zeichnung von Felix Jakobson und im erhaltenen Original)

In den Unterlagen der genannten Forscher sind darüber hinaus weitere Funde überliefert, die heute vollkommen verloren sind.


(Beschreibung eines Sprossenfibelpaares aus Kirtigehnen in der Fibelkartei von Kurt Voigtmann)

Der Fundplatz Kirtigehnen gehört zu den zahlreichen Gräberfeldern des Samlandes, die eine zweiphasige Belegung erkennen lassen, nämlich in der Römischen Kaiserzeit sowie der Völkerwanderungszeit einerseits, und im Mittelalter andererseits. Auffallend in der Benutzung des Gräberfeldes ist der zeitlicher Hiatus zwischen der späten Völkerwanderungszeit, also dem 6./7. Jh. n. Chr., und dem Zeitabschnitt vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Funde, die sich schwerpunktmäßig der Wikingerzeit (8.-10. Jh.) zuweisen lassen, fehlen bisher weitestgehend.
Innerhalb der archäologischen Forschung Ostpreußens vor dem 2. Weltkrieg, aber auch danach standen Kirtigehnen und seine Funde bisher im Schatten bekannterer Gräberfelder. In der „Urgeschichte Ostpreußens“ von W. Gaerte aus dem Jahr 1929 wird der Fundplatz nur einmal erwähnt; schon die archäologische Landesaufnahme von E. Hollack von 1908 kennt den Fundplatz, widmet ihm aber nur vier ganze Zeilen, während andere Fundorte deutlich länger abgehandelt werden.


(Sprossenfibelpaar des 6./7. Jahrhunderts aus Kirtigehnen. Nach Gaerte 1929)

Die Altfunde von Kirtigehnen und ihre Fundüberlieferung lassen zwei von einander räumlich getrennte Gräberfeldareale vermuten, beide liegen ungefähr 500 m vom historischen Ortskern entfernt


(Lageskizze der Notgrabung 1927 durch W. Gaerte mit mittelalterlichen Befunden aus dem Grenz-Archiv, Schleswig).

In der Berliner Prussia-Sammlung lassen sich heute noch 29 Fundkomplexe mit ganz unterschiedlichen Objektzahlen dem Fundplatz zuordnen, davon sind 20 Komplexe mit insgesamt 37 Objekten der Römischen Kaiserzeit bzw. Völkerwanderungszeit zuzuordnen, während dem Mittelalter neun Komplexe mit 39 Funden angehören. Aus der leider nur sehr eingeschränkten archivalischen Überlieferung zu Kirtigehnen im rekonstruierten Prussia-Sammlung am MVF sowie den Angaben der Literatur vor 1945 lässt sich jedoch erschließen, dass einstmals deutlich mehr Funde aus Kirtigehnen vorlagen, heute jedoch verschollen sind. Über die genaueren Umstände der Ausgrabungen vor 1945 sowie den dabei beobachteten Befunden berichten die archivalischen Quellen sehr wenig. Lediglich von einer Notgrabung aus dem Jahr 1927 erfahren wir, dass offenbar zehn Brandgrubengräber mit Steinabdeckung und jeweils zugehöriger Pferdebestattung aus dem 11.-13. Jahrhundert geborgen wurden.

(Norbert Goßler)